Die Gewaltfreie Kommunikation basiert auf den 4 Schritten. Gefühl, Beobachtung, Bedürfnis und Bitte. Jeder dieser Schritte hat mindestens einen Gegenspieler in unserer Alltagssprache. Im
Konfliktfall ist unsere Alltagsprache geprägt von Bewertungen, Urteilen, Vorwürfen, Forderungen oder Lösungsansätzen. Das führt dann meist zu noch mehr Spannungen und Reiberein. In diesem Beitrag
stelle ich dir die wichtigsten Schlüsselunterscheidungen vor, damit du ein tieferes Verständnis des jeweiligen Schrittes der Gewaltfreien Kommunikation bekommst. Und noch mehr Ansätze für deine
bedürfnisbasierte Sprache und Haltung.
Um eins vorweg zu nehmen. Bei den Schlüsselunterscheidungen geht es nicht darum, ein GFK-richtiges und alltagssprachlich falsches Sprachverhalten zu erzeugen. Sie sind hilfreich, um herauszufinden, ob du aus deinem GFK Bewusstsein heraus handelst oder aus deinem Alltags-Bewusstsein.
Ich will damit auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, es gebe ein "richtig oder falsch" Reden, Denken oder Handeln.
Wenn du dich schon länger mit der GFK befasst, dann ist dir sicher schon aufgefallen, dass es sich um mehr als eine reine Kommunikationsmethode handelt. Aus meiner Sicht ist es ein Achtsamkeitsprozess für unsere Sprache. Und deshalb ist es so hilreich, die Schlüsselunterscheidungen zu kennen. Damit kannst du diesen Achtsamkeitsprozess für dich intensivieren. Wenn du magst.
Die ersten 4 Schlüsselunterscheidungen orientieren sich an den 4 Schritten. So findest du zu jedem der 4 Schritte einen entsprechenden Gegenpart unserer Alltagssprache. Außerdem habe ich dir noch ein weitere Schlüsselunterscheidungen beschrieben, die dir vielleicht neu sind. Dich jedoch gleichzeitig dabei unterstützen, deine Alltagssprache unter die GFK-Lupe zu nehmen.
Übringens habe ich die Schlüsselunterscheidungen aus einem meiner Bücher entnommen und für dich hier weiter ausformuliert. Du findest viele weitere Abgrenzungen in "Das große Praxisbuch zum wertschätzenden Miteinander. 101 Übungen zur Inspiration Ihrer Seminare und Gruppen auf Basis der Gewaltfreien Kommunikation von Irmtraud Kauschat und Birgit Schulze, bod 2018."
Und los gehts. Hier kommt die erste Schlüsselunterscheidung:
1. Schlüsselunterscheidung: Beobachtung vs. Gedanken oder Bewertungen
Beobachtung
In der GFK basiert eine Beobachtung darauf, was du wahrnehmen, sehen, hören, riechen oder schmecken kannst. Du kannst dich dabei an Zahlen, Daten oder Fakten zu einer Situation orientieren. Durch die Beobachtung, die ja auch gleichzeitig der erste Schritt im Konzept der GFK ist, kann es dir gelingen, einen Zugang zu deinem Gefühl oder deinem Bedürfnis herzustellen. Das kann sein, muss aber nicht.
Beispiel:
- Du wiederholst, was du von einer Person gehört hast und zwar wortwörtlich. "Ich habe von dir gehört, dass dir gleich der Kragen platzt."
- Oder du beschreibst genau, was du siehst und orientierst dich dabei an Zahlen, Daten und Fakten zur Situation: "An der Straßenbahnhaltestelle stehen 3 Menschen und einer sitzt auf der Bank. Die stehende Person in der Mitte raucht eine Zigarette und der Mann daneben schaut in sein Handy."
Hilfreiche Fragen:
Beschreibe ich wirklich das, was ich gehört, gesehen oder wahrgenommen habe? Und könnten das andere auch genauso wahrgenommen haben?
Gedanken oder Bewertungen
Bei den Bewertungen vermischst du deine Wahrnehmung mit Gedanken, Erfahrungwerten, Einschätzungen, Ideen, Interpretationen. Oftmals analysierst du sekundenschnell. Das alles verhindert, dass du dich mit deinen Gefühlen und Bedürfnissen verbindest oder mit denen deiner Mitmenschen. Dein Kopf ist aktiv und du bleibst genau dort. Im Kopf. Keine Sorge, das ist menschlich und normal und im Alltag dann unbedenklich, wenn es eine entspannte Situation ist. Aber sobald Spannungen aufkommen, Mißverständnisse im Raum stehen, verhindern deine Gedanken oder Bewertungen, die Verbindung. Zu dir und zu deinen Mitmenschen.
Beispiel:
- Jemand sagt dir, dass ihm gleich der Kragen platzt und du reagierst z.B. beschwichtigend. "Ach jetzt stell dich nicht so an, das geht mir ja auch immer so. Da musst du halt durch!"
- Die Typen an der Straßenbahnhaltstelle sind mir suspekt, und außerdem kann ich es nicht leiden, wenn einer raucht. Kann der Typ der alten Frau nicht mal seinen Sitzplatz anbieten?
Hilfreiche Fragen:
- Vermische ich das was ich sehe, höre - also wahrnehme, mit dem was ich so denke und werte es ab?
2. Schlüsselunterscheidung: Ursache für Gefühle vs. Auslöser für Gefühle
Ursache für Gefühle
Die Ursache für deine Gefühle sind deine Bedürfnisse. Es geht dir gut, wenn deine Bedürfnisse erfüllt sich (nicht zwingend alle, aber ein Teil davon in einem für dich ausreichenden Maß). Und es geht dir schlecht, wenn deine Bedürfnisse nicht erfüllt oder im Mangel sind.
Beispiel:
Du bist müde, weil du in letzter Zeit wenig schläfst. Du brauchst Erholung und Ruhe und sorgst dich um deine Gesundheit. Das führt dazu, dass du tagsüber schlecht gelaunt und dünnhäutig bist. Dein Bedürfnis nach Schlaf/Erholgung (Bedürfnis) ist nicht ausreichend erfüllt und deshalb bist du müde (Gefühl).
Hilfreiche Fragen:
- Welche Bedürfnisse sind zur Zeit erfüllt?
- Welche sind unerfüllt?
- Bin ich mir bewusst, dass meine Gefühle durch meine Bedürfnisse verursacht werden?
Auslöser für Gefühle
Ein Auslöser für deine Gefühle ist ein Ereignis - also eine Handlung, eine Aussage, Geste, ... die dazu führen, dass deine Bedürfnisse sich erfüllen oder nicht erfüllen.
Es ist hilfreich, den Auslöser von der Ursache zu trennen, denn das macht unabhängig von den Handlungen anderer. Dadurch bist du nicht mehr "Opfer" der Handlungen anderer. Es erleichtert dir, Wege zu finden, dir deine Bedürfnisse auf andere Weise zu erfüllen, ohne dem Auslöser die Verantwortung für deine Gefühle zu geben. Du gewinnst Handlungsfreiheit.
Beispiel:
Du bist genervt von deiner Freundin und ärgerst dich, dass sie immer dich anruft, wenn es ihr schlecht geht. Wegen ihr kommst du nicht zum Schlafen.
Hilfreiche Fragen:
- Bin ich mir bewusst, dass ich erfüllte oder unerfüllte Bedürfnisse hinter meinen Gefühlen in dieser konkreten Situation habe?
3. Schlüsselunterscheidung: Bedürfnis vs. Strategie
Bedürfnis
Bedürfnisse sind abstrakt und alle Menschen haben die selben Bedürfnisse. Dabei spielt es keine Rolle, woher du kommst, welcher Religion du angehörst, welche Hautfarbe du hast oder welches Geschlecht. Du erfüllst dir Bedürfnisse auf verschiedenen Wegen und verschiedene Menschen tragen zur Erfüllung deiner Bedürfnisse bei.
Beispiel: Bedürfnis "Verbindung"
Egal ob du ein Mann bist, Divers oder einer anderen Religion als ich angehöre, du hast das Bedürfnis nach Verbindung, erfüllst es dir möglicherweise auf einem anderen Weg als ich.
Hilfreiche Fragen:
- Bist ich offen für verschiedene Wege zur Erfüllung meiner Bedürfnisse?
Strategie
Eine Strategie stellt ein konkretes Vorgehen dar. Durch dieses konkrete Vorgehen, erfüllst du dir eins oder mehrere Bedürfnisse. Du hast zahlreiche Möglichkeiten dir ein Bedürfnis zu erfüllen - also zahlreiche Strategien stehen dir und deinen Mitmenschen zu Verfügung, um Wege zu finden, die euer aller Bedürfnisse erfüllt.
Beispiel:
Mit meinem Handy kann ich mir Verbindung erfüllen.
Mein Fahrrad erfüllt mir Autonomie.
Das Abschließen meiner Wohnungstür erfüllt mir Sicherheit.
Hilfreiche Fragen:
Auf welche Weise will ich mein Bedürfnis erfüllt haben?
Gibt es Lieblingsstrategien, die ich anwende, um mir ein Bedürfnis zu erfüllen?
4. Schlüsselunterscheidung: Bitte vs. Forderung
Bitte
Mit einer Bitte drückst du einen Weg, wie du ein bestimmtes Bedürfnis erfüllt haben möchtest. Du richtest im Alltag eine Bitte an eine bestimmte Person oder auch an dich selbst. Mit deiner Bitte lässt du jedoch die Wahl, "Ja" oder "Nein" zu sagen. Bei einem "Nein" bist du auch bereit, dir dein Bedürfnis auf andere Weise zu erfüllen.
Beispiel:
Ich frage meinen Sohn, ob er mit mir auf die Kirmes gehe mag. Er sagt nein. Gut, dann frage ich eine Freundin, ob sie mit mir gehen will. Mir erfüllt das Spaß und Abwechslung und Verbindung.
Hilfreiche Fragen:
- Bin ich offen für ein "Nein"?
- Bin ich bereit dein Bedürfnis auf andere Weise zu erfüllen?
Forderung
Bei einer Forderung lässt du der anderen Person keine Wahl. Du willst, dass dein Bedürfnis auf diese konkrete Weise erfüllt wird. Ob du eine Forderung hattest, merkst du, wenn du auf ein "Nein" ärgerlich reagierst.
Beispiel:
Ich frage meinen Sohn, ob er mit mir auf die Kirmes geht. Er sagt nein. Ich ärgere mich, denn ich hatte es mir so schön vorgestellt, mit ihm einen schönen Tag zu verbringen. Ich bin traurig und enttäuscht.
Hilfreiche Fragen:
- Reagiere ich auf ein "Nein" mit Ärger?
5. Schlüsselunterscheidung: Einfühlung vs. Einverstanden sein
Einfühlung
Einfühlung bedeutet Empathie. Das ist ein Begriff, der meiner Meinung sehr inflationär gebraucht wird. Wenn du dich in eine andere Person einfühlst, bist du ganz präsent bei dieser Person. Dabei was sie fühlt und welches Bedürfnis gerade erfüllt oder nicht erfüllt ist. Du kannst ihre Beobachtung, ihr Gefühl und Bedürfnis vermuten. Wenn du magst, kannst du deine Vermutung überprüfen, in dem du sie fragst. Wenn du daneben liegst, kein Thema. Denn die andere Person entscheidet, wie es ihr geht und was sie braucht. Einfühlung bedeutet auch, die eigenen Urteile über die Person zur Seite zu stellen.
Beispiel:
Im Büro klagt eine Kollegin über die Mailflut, die sie nicht bewältigt. Ich vermute, sie hätte gerne Unterstützung und ausreichend Zeit, die eingehenden Mails zu bearbeiten.
Hilfreiche Fragen:
- Bin ich präsent, d.h. vermute ich Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte meiner Gesprächspartnerin?
- Überprüfe ich meine Vermutungen, in dem ich um Rückmeldung bitte?
- Bin ich bereit, meine Urteile über die Handlung der anderen zur Seite zu stellen?
Einverstanden sein
Beim Einverstanden sein geht es meistens darum, auf einer Wellenlänge zu sein. Es gut zu heißen, was andere machen. Wenn du mit einer Handlung einer anderen Person einverstanden bist, dann liegt sie ihm Rahmen deiner Wertvorstellungen. Einverstanden sein findet eher auf der Kopf- als auf der Gefühls- und Bedürfnisebene statt.
Beispiel:
Ich finde es gut, dass meine Kollegin die Mails von Herrn Meier nicht mehr beantwortet, da er ständig irgendwelche Nachfragen hat und ihr damit noch mehr Arbeit macht.
Hilfreiche Fragen:
- Entsprechen die Handlungen der anderen meinen Werten?
- Billige ich deren Handlungsweisen?
6. Schlüsselunterscheidung: Verantwortung vs. Müssen/Sollen
Verantwortung
Du übernimmst die Verantwortung für deine Handlungen und die Konsequenzen, die daraus entstehen. Du bist dir bewusst, welche Bedürfnisse sich durch dein Handeln erfüllen.
Und du erkennst auch an, dass durch diese Bedürfnisse bestimmte Gefühle in dir wahrnehmbar sind.
Beispiel:
Ich lasse die Küche heute so wie sie ist. Mir ist gerade Ruhe und Erholung wichtig, deshalb putze ich morgen. Auch auf die Gefahr, dass ich morgen früh keine saubere Tasse im Schrank finde. Heute
bin ich einfach zu müde.
Hilfreiche Fragen:
- Bin ich mir bewusst, welche Bedürfnisse ich mir durch meine Handlungen erfülle?
- Bin ich auch bereit für die Konsequenzen einzustehen?
Müssen/Sollen
Beim "Müssen/Sollen" übernimmst du die Werte und Normen anderer und bist nicht mit deinen Gefühlen und Bedürfnissen in Verbindung. Durch die Formulierungen "Ich müsste/Ich sollte ..." gebe ich die Verantwortung für mein Tun ab.
Beispiel:
Ich muss noch die Küche putzen, denn das gehört sich am Samstag so.
Hilfreiche Fragen:
- Passe ich mich an die Werte und Normen anderer an?
- Gebe ich die Verantwortung für meine Handlungen ab?
Oha, das war jetzt aber viel Input oder?
Wie geht es dir jetzt? Ich hoffe, beigetragen zu haben zu Wachstum und Entwicklung und zu einem tieferen Verständnis, was die GFK zu bieten hat. Und das war noch nicht alles. Es gibt noch viele weitere Schlüsselunterscheidungen. Mir war wichtig, dir hier die grundlegendsten mitzugeben. Damit du die 4 Schritte für dich alltagstauglich machen kannst. Gerade, wenn du noch am Anfang bist und tiefer in die GFK einsteigen willst, kann es hilfreich sein, die Schlüsselunterscheidungen immer mal wieder durchzugehen.
Nimm dir die hilfreichen Fragen mit in den Alltag und hinterfrage dich immer mal wieder selbst. Sei kreativ, was den Umgang mit der Gewaltfreien Kommunikation angeht. Dadurch machst du sie für dich erfahrbarer und kannst sie leichter in deine Alltagskommunikation integrieren. Neugier und Spaß sind die beiden Faktoren, die mich dran bleiben lassen. Die vielen verbindenen Momente, die ich immer wieder erlebe sind mehr als Belohnung, sozusagen das Sahnehäubchen, durch die ich erfahre, dass es "wirkt".
Über deine Erkenntnisse, dein Feedback oder eine Weiterentwicklung deiner Übung freue ich mich sehr. Schicke mir gerne eine E-Mail.
Vielleicht nimmst du schon an einer der vielen GFK Übungsgruppen teil? Dann kannst du diese Schlüsselunterscheidungen mitnehmen und gemeinsam mit deinen Mit-Übenden durchführen.
Wenn du mehr Inspirationen brauchst und weiter üben willst, kann ich dir meine Übungsbücher empfehlen, du findest hier eine Übersicht meiner Übungsbücher zur Gewaltfreien Kommunikation mit noch vielen, weiteren Übungen, Beispielen und Begleitmeditationen. Damit du deine persönliche Gewaltfreie Haltung entwickeln kannst und zu der Person wirst, die du in der Welt sehen willst.
Neuerscheinung ab Oktober 2021:
Was uns verbindet: In 4 Schritten zur Gewaltfreien Kommunikation im Alltag, mvg Verlag
Wenn Menschen zusammenkommen und miteinander kommunizieren – ob beruflich oder privat –, entstehen oft Missverständnisse und Konflikte. Kommunikation betrifft aber auch einen selbst: Wer sehr streng mit sich selbst spricht, neigt zu Depressionen und Ängsten. Birgit Schulze ist Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation und erklärt anhand zahlreicher Übungen und Aufgaben, wie es im Alltag gelingt, diese Methode anzuwenden. Sie lädt ein, in einem praktischen 4-Schritte-Programm die eigenen Gefühle und Bedürfnisse besser wahrzunehmen, um so in eine wertschätzende Verbindung zu sich selbst und zum Gegenüber zu treten.
Inspirationen, praktische Tipps und anregende Übungen für abwechslungsreiche, erfahrungsintensive und beigeisternde Seminare und Übungsgruppen auf Basis der Gewaltfreien Kommunikation.
Wir Autorinnen lassen dich auf 212 Seiten, 101 Übungen in 13 Kapiteln, 30 Schlüsselunterscheidungen an unserem reichen Erfahrungsschatz teilhaben.
Willst du deine beste Freundin oder dein bester Freund werden? In diesem Buch findest du anregende, abwechslungsreiche und erfahrungsintensive Übungen auf Basis der Gewaltfreien Kommunikation. Diese ermöglichen dir mit dir eine tiefe und liebevolle Verbindung zu erleben. Die Autorinnen begleiten dich mit 52 Übungen und 52 Schlüsselunterscheidungen bei deinem Prozess. Irmtraud Kauschat/Birgit Schulze, 164 Seiten, bod Norderstedt, 2018.
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